Der Titel spielt auf den Spruch "Nächstes Jahr in Jerusalem" an, welcher seit Tausenden von Jahren innerhalb von jüdischen Communities auf der ganzen Welt gängig ist. Es geht darum, endlich in die Heimat zurückzukehren und dass es hoffentlich bald geschehe. Auch in Angesicht der Tatsache dass Jerusalem lange unter Fremdherrschaft war.
Im Band selbst finden wir insgesamt 11 Geschichten, die sich allesamt mit der jüdischen Geschichte innerhalb Deutschlands als auch in benachbarten Ländern beschäftigen. Es geht hier primär nicht um Vertreibung sondern um verschiedene Aspekte. Zuallererst geht es um einen jüdischen Arzt namens Jonas der im Jahre 1452 nach Darmstadt gekommen ist, um einen Grafen zu heilen. Ganz alleine und weit weg von seiner Familie musste Jonas für sich selbst notdürftig ein Seder-Abendessen zusammenstellen (Seder ist der Vorabend des jüdischen Festes Pessach). In "Die Partie" lernen wir Glikl bas Judah Leib kennen, die eine der ersten selbstständigen jüdischen Kauffrauen gewesen ist. "Abraham Picard" erzählt die Story des gleichnamigen jüdischen Räubers, der sich hier mit einem anderen namens "Schinderhannes" zusammentut um anschlließend das erbeutete Geld zu teilen. Schinderhannes betrügt ihn jedoch und reißt die andere Hälfte der Beute an sich. "Bet HaChajim - ein besuch" zeigt den Jüdischen Friedhof in Darmstadt und was für Persönlichkeiten dort begraben sind - auf spielerische Weise. Ein Junge und ein Eichhörnchen begegnen dort mehreren Geistern und sprechen mit ihnen. Über den Architekten Ludwig Meidner erfahre ich in "Sehen lernen". Dort zeigen sich nicht nur seine Visionen der Städte sondern sein Schicksal nach der Auswanderung aus Deutschland nach dem II. Weltkrieg und die Rückkehr. "Hidden Figures" erzählt von einer unbeachteten Figur der französischen Resistance gegen die Wehrmacht - Fanny Azenstarck die als Botin/Kurierin im Untergrund gearbeitet hat und später das Arbeitslager Chrastava überlebt hat. Sie kämpfte lange um die Anerkennung ihrer Arbeit als Widerstandskämpferin. Mascha Kalékos traurige Geschichte wird in "Kein Kinderlied" dargestellt. Die Dichterin floh insgesamt zwei Mal aus Deutschland und hat insbesondere während des II. Weltkriegs schwere Traumata mitgenommen. Das Gefühl der Heimatlosigkeit war in ihrem Leben allgegenwärtig. "Blue Notes In Berlin" erzählt die Story von Alfred Lion und Francis Wolff. Die beiden Berliner waren so in Jazz verliebt, dass sie irgendwann vorm NS-Regime abgehauen sind und später in New York ein dementsprechendes Plattenlabel namens "Blue Note Records" aufgebaut haben. Dort wurden Platten namhafter schwarzer Künstler wie Miles Davis, Thelonious Monk und John Coltrane rausgebracht. Als nächstes lernen wir die Geschichte der Jüdischen Berufsfachschule Masada kennen und erfahren auch etwas über zwei gegensätzliche zionistische Bewegungen. Nämlich Hashomer Hazair (sozialistisch) und Betar (nationalistisch). In "Aaron" lernt die Protagonisten einen alten Antisemiten kennen, der einst in der Wehrmacht gedient hat und damals einen etwa gleichaltrigen Soldaten der Roten Armee erschossen hat. In der letzten Geschichte erzählt Autorin Miriam Werner etwas über ihre Familiengeschichte und das sprichwörtliche "Sitzen zwischen den Stühlen".
Die Autoren als auch die Erzähl- und Zeichenstile könnten nicht unterschiedlicher sein. Zu Beginn sehen wir in Simon Schwartz' "Die Darmstädter Haggada" einen nahezu mittelalterlich anmutenden Stil, gemischt mit durchaus comichaften Gesichtern. Im Gegenzug dazu ist Tine Fetz' "Abraham Picard" ein reiner durchaus detaillierter aber jedoch schwarz-weißer Comic. Büke Schwarz' Geschichte über Ludwig Meidner ist nahezu das detaillierteste was ich seit langem gesehen habe. Die Illustrationen von Gebäuden, Rolltreppen, Stühlen etc. sind fantastisch. "Hidden Figures" von Ka Schmitz erscheint nahezu fast schon zu unschuldig für einen Comic über eine Widerstandskämpferin. Einer meiner Favoriten in dieser Sammlung ist "Kein Kinderlied", geschrieben und gezeichnet von Barbara Yelin, deren Werk "Irmina" ich schon mal hier reviewt habe. Wirklich außerordentlich eindringliche und auch traurige Zeichnungen.
Meines Erachtens ist "Nächstes Jahr in"eine wirklich herausragende und vielfältige Quelle an Informationen über ebenfalls vielfältiges Jüdisches Leben in Deutschland. Empfehlenswert vor allem für diejenigen unter euch, die sich für (jüdische) Geschichte interessieren und auf künstlerisch anspruchsvolle Zeichnungen stehen. Grandios.
9/10 Pfandflaschen
Hier eine Aufzeichnung des Livestreams über diese Anthologie, der vor drei Jahren in Stuttgart aufgenommen wurde:
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