Donnerstag, 15. Mai 2014

Geschichten, die keiner mag#35: Kartoffelacker

Da ich die Rubrik "was mich anpisst" nicht mehr aktiv führe und kein Bock hab dafür einen so riesigen Artikel zu schreiben, muss das hier rein. Es ist weniger eine Geschichte, sondern eher ein Rant. Aber: mein blog, meine roolz.

Letztens ist etwas ganz schlimmes in der homophoben Welt passiert. Ein Mann mit einem Bart und in einem Kleid hat den Eurovision Song Contest 2014 in Kopenhagen gewonnen. Ich sage das bewusst so, weil der Künstler sich nicht als trans*mensch sieht sondern lediglich eine Kunstfigur, eine Frau mit Bart, namens Conchita Wurst erfunden hat. Jedoch will er, wenn er als die besagte Kunstfigur auftritt als Frau angesprochen werden. So wird es also im weiteren Verlauf des Textes sein.

Falls ihr den ESC nicht kennt: Eingeleitet nach dem zweiten Weltkrieg sollte der ESC ein europaweiter Gesangswettbewerb. Er wird jedes Jahr im Land des Siegerinterpreten des vorherigen Jahres abgehalten. Dabei vergibt jedes Land per Telefonvoting 1-12 Punkte an andere Länder. Und es kommt noch irgendwie ne Jury dazu, aber das hab ich nicht gepeilt. Eigentlich sollte Eurovision ein friedliches Aufeinandertreffen von verschiedenen Nationen darstellen. Eigentlich 'ne gute Idee nach zwei bekackten Weltkriegen. Eigentlich.
Eigentlich ist der ESC ein durch und durch politischer Wettbewerb. Denn wie wir wissen sind Nationen(und Nationalismen) kacke und sie spalten Menschen. So sah es, zumindest verstärkt in den letzten Jahren, aus. Ein Land bewertete ein gut befreundetes Nachbarland besser und vice versa. Dabei hagelte es immer an wütenden Reaktionen aus der Bevölkerung. "Wieso hat Lampukistan uns, Amarschderweltlern dieses Jahr nur 2 Punkte gegeben? Immerhin haben wir letztes Jahr sie zu Gewinnern gemacht!" oder "Diese Wichser aus Ostsüdtschumbanasien haben uns null Punkte gegeben. Die sind immer noch neidisch dass unser Führer letztes Jahr den ersten Preis fürs Kettensägenjonglieren gewonnen hat! Die hassen uns!". So oder ähnlich(naja eher nicht) lauten die Reaktionen unter den Völkern. Vielleicht ist es gar nicht die Mehrheit der Leute, allerdings lässt heutzutage verstärkt das Internet einen spüren, dass diese Stimmen immer lauter werden.

So auch dieses Jahr. Conchita Wurst hat gewonnen und steht somit in einer Reihe von "Skurrilitäten". Vor weniger als fünf Jahren nahm der Künstler Oleg Skripko für die Ukraine den zweiten Platz ein. Er trat auf als eine Frau namens Verka Serdutschka. Davor, im Jahre 2006 gewannen Lordi aus Finnland. Noch früher, im Jahre 1998 gewann die Transfrau Dana International aus Georgien den Wettbewerb. Also eigentlich ist der diesjährige Sieg wohl nichts besonderes oder?

Nein, denn irgendwer findet immer was zu meckern. Anscheinend ist es vergleichbar mit dem Nuklearen Holocaust wenn eine Künstlerin mit Bart auftritt und den Wettbewerb auch noch gewinnt. Ich habe mir gedacht "du wirst nach dieser Sendung nicht ins Internet gehen" und doch hab ich es getan. Was mich erwartet hat waren hunderte von Hasskommentaren gerichtet gegen Conchita. Von "Scheißschwuchtel" bis zu "Oh mein Gott, das ist das letzte Mal dass ich ESC geguckt habe, Europa geht unter, wie soll ich meinen Kindern erklären dass eine Frau einen Bart trägt???!!!" war alles dabei.
Da ich mich interessiert habe was Russen und Polen dazu zu sagen haben, ging ich die polnische facebook-seite "eurowizja.org" und landete aus Versehen auf der Seite "we love russia". Das Ergebnis war ungefähr dasselbe bloß dass die Polen sich darüber aufgeregt haben dass ihr pornöser Beitrag nicht gewonnen hat. Anscheinend können die Leute echt slawische Schönheit nicht wertschätzen und stehen auf bärtige Frauen. Das geht ja gar nicht. Die Russen waren schockiert und meinten dass "die alle in Europa total verrückt" geworden sind. Allerdings muss ich sagen, dass es auch jede Menge positiver und verteidigender Kommentare gab, in allen drei Ländern.

Achja und das hier kommt auch noch:

"Ich habe Oesterreich verlassen weil ich diese mochtegern toleranz nicht mehr ertragen habe und als ich dieses wesen mit bart auf dem eurosong wieder sah wuste ich das er gewinnt, alles spriecht dafuer die rusen vollen den eurosong absetzen wegen dem transwestiten der frauenkleider und einen angeklebten bart tregt europa ist gegen rusland also mus er gewinnen. Als ihm/ihr/es dan auch Italine 12 punkte gab war mir klar die welt befindet sich im 3 und letzten Weltkrieg nur wir Menschen die tag teglich zur arbeit fahren wurden noch nicht ausdruecklich informirt sonst wuerden wir nicht mehr arbeiten und das will niemand."

Doch es gab noch etwas was mich bei der ganzen Sache gestört hat. Die "podsflöadsf twins", also die zwei 17jährigen Mädchen die für Russland aufgetreten sind wurden bei der Punktevergabe(genauer gesagt jedesmal wenn sie Punkte bekommen haben) ausgebuht. Die Gründe hierfür waren fast schon offensichtlich. Nämlich Russlands Gesetze gegen "Homopropaganda" als auch das Verhalten auf der Krim. Allerdings stellt sich mir die Frage: Was zur Hölle können diese zwei Mädchen für die Politik ihres Präsidenten? Und überhaupt: Woher wissen all die Buhrufer wie die Mädchen zu den beiden Sachen stehen? Es hat sich nämlich rausgestellt, dass Conchita, die Russinnen und ihr Manager/Produzent Filip Kirkorov sich hinter den Kulissen sehr gut verstanden haben. Hm. Das geht wohl so nicht. Oder doch?


Oh, es kommt sogar noch besser: Österreich hat von Russland ganze 5 Punkte bekommen! Von Weissrussland, wo in Oktober 2013 sogar eine Petition gegen die Ausstrahlung von Conchitas Auftritt durchgeführt wurde(und gescheitert ist!) hat sie soweit ich mich nicht irre 10 Punkte bekommen. Ukraine vergab ebenfalls Punkte. Und es geht noch weiter: Wursts Lied "Rise like a phoenix" landete prompt in den russischen iTunes-Charts. Direkt auf Platz 1.

Ist Russland/Osteuropa jetzt von Homophobie/Transphobie befreit? Nein. Es stimmt tatsächlich: Russland hat ein übles Homophobieproblem, was schon desöfteren zu lebensbedrohlicher Gefahr wurde. Allerdings wohnen in diesen Ländern nicht nur homophobe Menschen. Das schienen die Buhrufer komplett vergessen zu haben. Denn wenn es so wäre.....ne, das will ich mir nicht ausmalen.

Ehrlich gesagt kotzt mich die Stimmungsmache gegen Russland wirklich an. Und nein, ich heiße weder Jebsen noch Elsässer mit Nachnamen. Jedoch muss man die Sache nüchtern sehen(damit meine ich das ganze Verhältnis zwischen Ost und West inklusive den Ukrainekonflikt): Man befindet sich in einem Propagandakrieg. Die eine Seite diskreditiert die andere und andersrum auch. Und nein ich will jetzt kein Geschwafel lostreten von irgendwelchen geheimen Eliten und bösen Mächten oder so. Ich seh das wirklich sehr nüchtern. Das war nämlich schon immer so, dass der Westen und der Osten sich nicht grün waren. So kommt es dass man aus beiden Richtungen, gelinde gesagt übelste Scheiße über den anderen hört. Und weil so gut wie gar kein Medium in der Sache objektiv berichtet wird es noch schwieriger sich eine freie Meinung zu bilden.

Denn das was man hört und liest geht auf keine Kuhhaut. Was wir jedoch wissen ist: Die Ukrainer fanden die Ablehnung des EU-Assozierungsabkommens echt nicht dufte und protestierten in Massen dagegen. Leider landeten sie dabei erfolgreich vom Regen(Ex-Präsident Janukowitsch) in die Traufe(neue Übergangsregierung). Denn nun ist u.a. Julia Timoschenko an der Macht die während des Regimes von Janukowitsch schon mal wegen Amtsmissbrauch in den Knast gewandert ist. In der Übergangsregierung sitzen mehrere Parteilose und Abgeordnete der rechtspopulistischen(in einigen Kreisen auch zurecht rechtsradikal eingeordneten) Partei "Swoboda"(dt. "Freiheit"). Ebenfalls bei den Protesten anwesend waren auch die paramilitärischen Nationalisten vom "Pravij Sektor"(rechter Sektor), die momentan dabei sind, sich in eine Partei zu verwandeln. Allerdings ging es ihnen nicht darum sich den Westen anzunähern sondern eine "nationale revolution" inklusive einer "derussifizierung" herbeizuführen.

Auf der andere Seite, nämlich im Osten der Ukraine, formierte sich dagegen Widerstand. Die sog. "Separatisten" riefen eine eigene Republik aus, die "Volksrepublik Donezk". Sie erhielten dabei auch viel Zustimmung von der Bevölkerung. Es gab nämlich, auch in der Vergangenheit, angebliche Beschlüsse die russische Sprache nicht mehr als Zweitsprache anzuerkennen. Die Separatisten stellen sich natürlich dagegen, und werden von vielen unter anderem auch dafür gefeiert. Allerdings stellt sich die Frage ob sie genauso "demokratisch" vorgehen, wie ihre Kollegen aus dem Westen. Dort wurden nämlich Menschen sinnlos auf offener Straße verprügelt, auch welche die die russische Fahne getragen haben. In der "VR Donezk" soll es zu ähnlichen Exzessen gekommen sein, bloß andersrum.

Während Swoboda/Udar(Partei von Witali Klitschko) vom Westen "nur" unterstützt werden, häufen sich Gerüchte und Verschwörungstheorien darüber, dass die NATO/die USA/die ganze westliche Welt hinter dieser Regierung stecken um ganz Eurasien bald zu unterjochen. Gleichzeitig spricht man in der Ukraine von Putins Geheimagent welche die Konterrevolution im Osten gestartet haben. Im ukrainischen und russischen WWW spricht man entweder von dem neuen Nazischurkenstaat Ukraine, der bald bestimmt Krieg gegen Russland führen will oder von den nutzlosen Russen, der eh nichts anderes außer Balalaika spielen und Vodka saufen kann und der nebenbei ganz Ukraine ausnimmt. Doch auch die "Hochly" kriegen von den Russen was ab - sie werden zu faulen Nichtsnutzen Kartoffelbauern erklärt, die zudem auch noch Nazis sind. Warum Nazis? "SS Galizien" googeln. Warum Ukraine so in Ost und West gespaltet ist? Nun dafür gibt es verschiedene Gründe. Ich würde am besten den Wiki-Eintrag über Stepan Bandera lesen. Dazu kommen noch weitere, sich wiederholende peinliche Ressentiments gegeneinander. Dabei ist der Gegner immer wieder "nutzlos"/"faul" oder ein scheißnazi/scheißkommunist.

Sicher ist die nationalistische Stimmung gegen Russland schon immer dagewesen. Besonders jetzt ist es sehr gut zu sehen, wenn Leninstatuen gestürzt werden und andere Denkmäler für gefallende Helden der Roten Armee geschändet werden. Richtig eklig wirds auch wenn US- und deutsche Größen wie John Kerry oder Angela Merkel diese pardon Nazis in der Übergangsregierung unterstützen.

Es wird ebenfalls genauso eklig, wenn man nach dem Motto "der Feind meines Feindes ist mein Freund" agiert. Nämlich wenn man als sogenannter "Friedensfreund" oder "Antiimperialist" sich kompromisslos Wladimir Putin anschließt und diesen als wahren Antifaschisten deklariert der die einzige Macht ist die den Westen noch stoppen kann. Mal ehrlich, wenn ich ein vernünftig denkender Mensch bin, was wähle ich dann? Den Einlauf oder die Kotstulle? Einen selbstverliebten Autokraten oder eine "Opposition" die "Deutsche, Polen und Judenschweine" austreiben will. Einen widerlichen homophoben Typen oder eine Stadtregierung die das Verbrennen von 40 Menschen in einem Gebäude als "Antiterroristischer Akt" gutheißt? Ich würde sagen, nichts von beiden. Denn es sind brutale Machtspiele die von beiden Seiten ausgetragen werden, nichts weiter.

Was hat das ganze Gelaber nun mit Conchita Wurst zu tun? Nun, ihre Gegner sehen in ihr den mentalen Stinkefinger den man Russland als Antwort zeigen wollte. Man vermutet sogar, dass man sie extra hat gewinnen lassen nur um es "den Russen richtig zu zeigen". Einige(!) ihrer Befürworter denken zwar nicht so verschwörungstheoretisch allerdings sehen sie in ihren Gewinn auch einen direkten Stinkefinger gegen Putin/Russland. Die Wahrheit ist: Es stimmt einfach beides nicht. Und das allerwichtigste - sie hats genauso wie die Situation in der Ukraine geschafft, dass Menschen ihr widerliches Gesicht offenbaren. Das ist gut so.

Danke füs Lesen.

links:
Interview mit ukrainischen Anarchisten
https://www.youtube.com/watch?v=DS4Rr26PlCU dies
https://www.youtube.com/watch?v=_pOjaOcaqew  dies
https://www.youtube.com/watch?v=ezEjykTJjVkn und dies 

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