Sonntag, 13. August 2023

So isses, Musik!#171

Slime Discography: Zwei (2022)

Okay, das war eine durchaus wilde Fahrt. Ein neues Album von Slime, nachdem Sänger Dirk Jora kurz nach "Wem gehört die Angst" ausgestiegen ist. Neuer Sänger ist ein Typ namens Tex Brasket. Dieser hat eine gute Weile auf der Straße gelebt und als Straßenmusiker Musik gemacht.

"Zwei" bezieht sich zumindest im Albumtitel auf das erste Album "Slime 1". So könnte man zuerst auf die falsche Fährte kommen und denken, das wäre sowas wie eine Fortsetzung. Aber nein, es ist wie bei vielen Film-Franchises: Ein Reboot. Dieser Sequel ignoriert alle Sequels die nach Teil 1 rausgekommen sind. Wobei, natürlich ist das nicht wirklich der Fall, da Slime ihre Alben nicht verleugnen. Viel mehr ist es ein absoluter Neuanfang. Im Gegensatz zu vielen alten Songs sind die Texte hier aus der Ich-Perspektive geschrieben und beleuchten so das Innenleben des Sängers (und Songschreibers) Brasket. Sie wirken nicht nur authentisch, sie sind es. Ob es um den Alltag auf der Straße ("Komm schon klar") oder Szenegehabe ("Nix von Punkrock") oder Amphetamin-Sucht und nichts auf die Reihe kriegen
("Bester Freund") oder um eingestehen von eigenen Fehlern ("Lieben müssen") - ich glaube das, was er da singt. Es ist nicht voll mit irgendwelchen Metaphern sondern stattdessen gefüllt mit sehr direkter Sprache. Natürlich geht es hier auch gegen organisierte Religon ("Mea Culpa") oder "die Gesellschaft" und "die Mehrheit" ("Sein wie die"). "Zwei" ist eine Art Schritt zwischen den alten Slime und den neuen Slime. Auf eine gewisse Art hat man hier ähnliche Gassenhauer und Songs zum Mitsingen, andererseits aber diese persönliche Note die sonst nie da war. Weil Slime eben Songs für alle gemacht haben, wo es immer um ein lyrisches "wir" ging. Musikalisch ist es auch etwas anderes. Das Album ist wesentlich "rockiger", soligeladener. Es ist paradox, dass ein Stück Musik dass so persönlich ist gleichzeitig nach großen Konzerthallen und Stadien klingt. Und das meine ich nicht böse. Doch es ist nicht alles gold was glänzt. Man findet hier leider auch ein paar Filler-Songs vor. Kein Wunder, bei 16 Tracks und über einer Stunde Spielzeit. "Taschenlampe" zündet nicht (höhö), "Outlaw" ist fürchterlich, "Weggefegt" fegt mich nicht weg. "Sein wie die" ist ein absolutes guilty pleasure. Der Refrain ist unglaublich cringe, aber der Song packt einen. Hachja, man hat hier sogar eine neue Version von "Ebbe und Flut" vom Vorgänger-Album. Herrlich.

Insgesamt muss ich sagen: Es ist ein echt gutes Album. Und das trotz des hier und da auftretenden Giga-Pathos, den die Schmalzüten aus Düsseldorf (Ja, ich meine Broilers - aber siehe weiter unten in dieser Ausgabe) nicht hätten besser machen können. Der Sprechgesang passt hier und da einfach absolut nicht - wie zum Beispiel zu Beginn von "Safari". Tex' Stimme passt aber grandios zu den Texten und zur Musik. Und ob man das ganze noch "Slime" nennen darf/kann/soll oder nicht - das ist mir grundsätzlich vollkommen scheißegal. Ich frage mich nur ob Tex live die alten Songs gut rüberbringen kann. 

8/10 Pfandflaschen
Anspieltipps: Komm schon klar, Nix von Punkrock, Safari,

und weil drei Meinungen besser sind als eine, hier kommt

Philipp:

"So liebe Leute,

nach dieser durchaus atemberaubenden Achterbahnfahrt namens Slime-Diskographie sind wir nun letztendlich beim neunten und bisher letzten Album angelangt. Dieses wurde passenderweise – in Anlehnung an das erste Album - „Zwei“ betitelt, denn es ist definitiv der Beginn einer neuen Ära der Band. Nach über 40 Jahren kehrte Dirk „Dicken“ Jora der Band 2020 aus gesundheitlichen Gründen den Rücken – natürlich nicht ohne deutlich anzumerken, dass er Slime nun im Alleingang aufgelöst hat und die Band – sollte sie trotzdem weiter existieren – nichts mehr mit Slime zu tun hat. Klassischer Dicken-Move, könnte man sagen. 

Schwers, Brasket, Nici, Elf, Mevs
Naja, die anderen in der Band – Elf, Christian Mevs, Nici und Alex Schwers – haben das aber durchaus anders gesehen – und haben sich als tatkräftige Unterstützung den ehemals obdachlosen Straßensänger Tex Brasket (hier an dieser Stelle shoutout an random Festivalbesucher #354 für die Verhunzung des Namens als „Tex Brexit“, eigentlich wollte ich es durchziehen, ihn so zu nennen, den Witz hätte aber wohl keiner verstanden.) ins Boot geholt, welcher durchaus das nötige Charisma hat, um in Dickens Fußstapfen zu treten. 

Glücklicherweise hatte dieser eine Akustikgitarre und einen guten Schwung Texte unterm Arm, weshalb ein neues Album dann nicht besonders lange auf sich warten ließ.
Musikalisch führt „Zwei“ den soliden Deutschrock-Kurs der letzten 2 Alben fort, Tex‘ musikalischer Input ist durch diverse Akustikgitarren-Einlagen nicht zu leugnen und seine Stimme ist noch mal wesentlich flexibler als die von Dicken und durch die Texte – die um einiges persönlicher sind, es geht um psychische Probleme, Sucht, Obdachlosigkeit, Gewalt – wird noch mal eine gehörige Schippe mehr Pathos auf‘s Brot (wer die Pascow-Referenz erkennt, darf sich freuen) geschmiert. Das muss man mögen, sonst wird man mit diesem Album nicht viel anfangen können. 

Ich persönlich bin großer Fan von pathetischer Musik, ohnehin wird hier nicht onkelig rumgeopfert sondern es werden spannende Geschichten aus dem Leben eines Außenseiters erzählt, die zur musikalischen Ausrichtung der späten Slime passen wie die Faust auf‘s Auge. Und Tex‘ Stimme ist einfach super emotional und großartig, dass es einem geradezu die Tränen in die Augen treibt.
Textlich gibt es generell viel Licht und wenig Schatten – hervorzuheben ist hier die Phrasierung von Analphabeten als Anal-phabeten in „Nichts von Punkrock“, einer trotzigen Hymne gegen Menschen wie mich, die Platten von Punkbands zerreden, darüber diskutieren, ob das alles noch Punk ist, Kommerzialisierung anprangern und generell an jedem Scheiß etwas rumzumeckern haben, aber damit kann ich natürlich leben, Tex Brasket hat mal an einem Sonntag Morgen am Rande eines Festival in launiger Katerstimmung zu mir gesagt, dass er mich super findet, das nehme ich dann natürlich wesentlich ernster, haha.

Natürlich würde hier nicht Slime draufstehen, wenn das Album nicht trotzdem hoch politisch wäre, jedoch auf einer wesentlich persönlicheren Ebene, es geht unter anderem um Wohnungsnot, Rassismus, den Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche.
Ich will hier nicht weiter um den heißen Brei reden, ich mag es wirklich, es hätten jetzt nicht unbedingt 16 Songs sein müssen, hätte man einige der schwächeren Momente (Nix von Punkrock, Outlaw) weggelassen und das Album auf 10-12 Songs eingedampft, hätte es wohl einiges an Schlagkraft gewonnen, das ist aber in diesem Fall dann doch meckern auf recht hohem Niveau.

Songs wie „Sein wie die“ treffen mich bei allem Pathos-Overload immer wieder mitten ins Herz und ich erwische mich dabei, wie ich mit geballter Faust mitbrüllen möchte und schreien will „Tex ich verspreche dir hoch und heilig, eins werd ich ganz sicher nie, ich werd niemals so sein wie die!“, wie ich mit dem Außenseiter Tex mitfiebere, wie sehr ich bei Gentrifizierung und Wohnungsnot mit dem Kopf nicke, wenn Tex sagt, er will kein Haus in Berlin mehr leer stehen sehen und wie egal mir ist, ob das noch Slime, Punk oder irgendwas ist, denn das hier ist großartig, das ist pathetisch, das ist emotional und das ist echt.

8,5/10 Pfandflaschen"

Raphael:

"Im Jahr 2020 überschlugen sich die Ereignisse im Hause Slime – und dafür brauchte man nicht mal Corona. Kein halbes Jahr nach Veröffentlichung des Albums „Wem gehört die Angst“ gab Dirk bekannt, dass er die Band verlässt, welche sich im selben Atemzug auflösen würde. Am selben Tag gaben die restlichen Mitglieder der Band bekannt, dass Slime die Band verlassen habe, aber Slime weiterhin existierten. Diggen scheint seither zwischen Arbeitslosigkeit, gesundheitlichen Problemen und musikalischer Zusammenarbeit mit Swiss hin- und herzupendeln. Bei allen drei Sachen wünsche ich ihm von Herzen, dass er sie hinter sich lassen kann. Aber nun zurück zu Slime: etwa eineinhalb Jahre wurde bekannt gegeben, dass mit Tex Brasket ein neuer Sänger im Boot ist und wieder Fahrt aufgenommen wird.

Sängerwechsel sind schwierig; vor allem wenn eine Stimme nahezu die gesamte Zeit einer Band geprägt hat. Aufnahmen mit dem ersten Sänger Thorsten Kolle findet man höchstens in Live-Mitschnitten aus der Zeit als die Band noch Slime 79 and the Sewer Army hieß. Und nun folgt 41 Jahre nach Veröffentlichung des Albums „1“ der Beginn einer neuen Slime-Ära: hier ist „2“.

Tex Brasket prägt die Band, und das ist wirklich positiv gemeint. Die Texte sind bis auf wenige Ausnahmen wirklich gut, die Stimme passt gut zum Rock’n’Roll Sound, und auch die Variationen zwischen Singsang, Sprechgesang und kratzigen Rufen ist sehr erfrischend. Musikalisch setzt sich „2“ nicht allzu stark von „Wem gehört die Angst“ ab, klingt allerdings nochmal lustvoller und rollender als zuvor. Und so bewegen wir uns also hier zwischen Rock’n’Roll, Deutschpunk und Deutschrock, während Tex auch immer wieder etwas Rap einbringt.

2“ ist ein Album, das vor allem bei alten Slime-Fans eine gewisse Eingewöhnungsphase braucht. Wenn man das Lied „Outlaw“ skippt und die Längen in „Safari“ überspielt, muss man aber zugeben: das ist eines der besten Slime-Alben. Nein, der legendäre Status der 80er Alben kann nicht erreicht werden, und weder „Schweineherbst“ noch „Sich fügen heißt lügen“ werden hier entthront. Dennoch ist das (bis jetzt) neueste Slime-Album wirklich solide und steht für eine großartige Wiedergeburt.
7,5/10 Pfandflaschen

Anspieltipps: Ebbe und Flut Zwei, Auf die Jagd"




V: 

V wie Volxsturm. Heilige Scheiße, ich habe einen Volxsturm-Ordner. Da drin: die "Good Fellas Never Split" mit den Broilers als auch die "Lichter meiner Stadt". Beides meines Erachtens irgendwie echt gute Veröffentlichungen. Volxsturm kehren Rumpel-Oi! den Rücken zu, Broilers sind hier zu Beginn ihrer Schmalzhersteller-Karriere. Irgendwie gefällt mir das, wieso auch immer. Dachte eigentlich, dass ich mit dieser Art von Skinhead-Musik nichts mehr anfangen kann.




Als nächstes dann die Split von Von Bööm und Motorbreath Split. Was mich darin erwartet ist ein ganz ordentlicher, jedoch 10.000 Mal gehörter Stoff a lá D-Beat trifft Motörhead trifft Crust oder so. Ganz in Ordnung, aber schon vergessen.

Dachte dass im Ordner "VSK" mich die Versauten Stiefkinder erwarten. Doch weit gefehlt: Stattdessen fand ich das Verbale Style Kollektiv vor. Ein Zusammenschluß von KIZ und drei weiteren Gesinnungsgenossen, die sich für das Album "Wo die wilden Kerle flowen" andere Identitäten zugelegt haben und nun ganz im Stil von deutschsprachigen Hip-Hop der 90er/00er Jahre flowen. Das hört sich an wie D-Flame, Trooper Da Don, Curse oder Torch. Es ist so unfassbar lustig und schlimm. Man erspart sich hier KEIN einziges Klischee. Es gibt Songs übers Party machen, Graffiti, Kiffen, die verflossene Liebe und auch einen Crossover-Track mit der Band Heimkind. Darin klischeesiert man darüber, dass es sowas noch nie gegeben hat und man sich was traut (!). Herrlich witzig.

W:

Wir gehen einen Ordner weiter und sind bei  "Birth of Violence" von Chelsea Wolfe angelangt. Habe ich hier mal reviewt. "Hingabe" von Götz Widmann fand ich furchtbar anstrengend. Früher habe ich Joint Venture wie ein Bekloppter gehört. Vielleicht gefiel mir dieser Sarkasmus/diese Ironie in den Texten und das hier war mir einfach viel zu ernst. Als nächstes dann The Who mit "My Generation", was ich ebenfalls hier reviewt habe. Genauso "Earth vs. The Wildhearts" von The Wildhearts, was mir Philipp nahegelegt hat und ich immer noch gut finde. "Over the Edge" von den großartigen Wipers:




"Bone Machine" vom mindestens genauso großartigen Tom Waits. Danach Drei Alben von Warcollapse, einer absolut dreckigen klingenden Crust Punk Band. Mein Favorit ist nach wie vor "Defy!" und der unfasbar dumme Song "Stoner Punk". Geil!
Der Krieg ist alphabetisch noch nicht zu Ende. Weiter geht es mit der Split von "Warvictims" und "Besthöven" die ich bestenfalls durchschnittlich finde.
Viel besser finde ich hingegen Warzones "Open Your Eyes", dass trotz des provokativen Bandlogos (Eisernes Kreuz auf USA-Fahne) auch Themen wie Rassismus behandelt. Großartiges NYHC-Album. Danach dann Watain mit ihrem neuesten Album "The Agony & Ecstasy of Watain". Totschlagargumente von Waving The Guns finde irgendwie immer noch catchy, nach all diesen Jahren - auch wenn ich Zeckenrap nichts mehr abgewinnen kann. 
"Life Sux" von Wavves habe ich vor paar Jahren auch ein Review geschenkt und habe es nicht bereut. 

Alphabetisch ist der Krieg zwar zu Ende, aber irgendwie doch nicht. "Wasza Wojna" ("Euer Krieg") von den polnischen Anarcho Punks WC. Bitteschön:





Westside Gunns "Pray For Paris" mit seinen endlosen "brrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr" funktioniert nicht mehr so gut wie beim ersten hören, ist aber dennoch kein schlechtes Album. Von wegen vorbei mit dem alphabetischen Krieg: "Poslednaya Woyna" ("Letzter Krieg") von der Moskauer Antifa-HC-Band What We Feel. Habe sie insgesamt glaube ich zwei mal gesehen. Sicherlich eine wichtige Band für die damalige Zeit. Schade, dass es sie nicht mehr gibt. Aus heutiger Sicht durchaus cringe Texte, zumindest zum Teil. Andererseits aber sehr direkt, was auch gut ist. 
Letzter Eintrag für heute: Whiskey Daredevils. Eine Cowpunk Band aus den USA. Zwei Alben: "Greatest Hits" und "Old Favorites". Das erste ist kein Best Of sondern durchaus brauchbares eigenes Material (größtenteils bis auf das Cover von "Let's Lynch The Landlord"). Auf "Old Favorites" covert man Bad Brains, Minor Thread, Motörhead, Black Flag und Flipper. Herrlich! Durfte ich übrigens einmal live sehen und es war eine großartige Show.



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