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Samstag, 4. August 2018

Album der Woche#354: muff potter - Bordsteinkantengeschichen (2000)

Okay, Leute. Ich dachte mir, dass es an der Zeit wäre Musik aus DIESEM LAND (!!!!111) zu ehren. Und deswegen habe ich nun den offiziellen D E U T S C H L A N D - Themenmonat eingeläutet. Dafür müssen die Bands aber nicht zwingend auf Deutsch singen. Ja, die Buchstaben kann man anklicken.

Jedenfalls kann ich leider nicht sooo viel zu diesem Album sagen wie unser Gastautor (Phil Th. Pig von AbstinenzX) allerdings ist es doch irgendwie schon was. Aber ich bin nicht jetzt nicht dran schuld wenn euch der Beitrag zu lang ist!!1 "Bordsteinkantengeschichten" ist die vierte Veröffentlichung von Muff Potter. Die Band selbst kannte ich bis dato nur aus MTV ("Allesnurgeklaut"), von Interviews ("Kein Bock auf Nazis"), den großartigen Hammerhead-Film "Sterbt Alle!", der Kampagne "I Can't Relax In Deutschland" (Song "Punkt 9") oder aber weil Jimmy Pop von Bloodhound Gang sich über den Bandnamen lustig gemacht hat. Schließlich sei "Muff"
umgangssprachlich sowas wie der Schambereich. Dabei haben sie sich ursprünglich nach einem Charakter aus "Die Abenteuer des Tom Sawyer" benannt, der unschuldig des Mordes bezichtigt wurde.

"Bordsteinkantengeschichten" ist für mich eine Art Mischung verschiedener Spektren. Man hört eindeutig Einflüsse von Leatherface und Hüsker Dü heraus. Zumindest was die Stimme des Sängers Nagel betrifft, steht sie meiner Meinung nach an manchen Stellen der von Frankie Stubbs in nichts nach. Andererseits ist auch der Einfluss von deutschsprachigen Bands wie Oma Hans, ...But Alive oder den Boxhamsters spürbar. Der Song "Mensch Meier" beispielsweise, welcher sich zynisch mit dem Alltag eines Asylamt-Beamten auseinandersetzt erinnert mich vom Humor her an die Goldenen Zitronen bzw. deren Klassiker "Das bisschen Todschlag". Gleichzeitig zitieren Muff Potter hier sogar ...But Alive:"Der weisse Riese aus Pollundermeiermenschen gestrickt mit denen er gestern wie heute den rest der Welt fickt". Falls ihr das Zitat nicht kennt so klickt doch hier (der Link leitet euch auf die zitierte Stelle weiter) Die "Bordsteinkantengeschichten wirken auf mich wie ein Ausschnitt aus einem Leben in einer Zeit als es ordentlich drauf und drüber ging. Und dabei ist das alles trotzdem so schön melodisch.

Anspieltipps: Western von Gestern, 100 Kilo, Take a Run at te Sun, Das Frozen Man Syndrom, Mensch Meier

10/10 Pfandflaschen

Und jetzt ist Phil Th. Pig dran!

Ein weiteres von diesen Alben, über das ich ein komplettes Buch schreiben könnte, soviel persönliche Erlebnisse kann ich mir nicht ohne dieses als Soundtrack vorstellen und so oft hab ich das gehört, jeder Ton, jede Zeile ist mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen. Doch genug Pathos, zuerst die Vorgeschichte:
Ich war so ca. 14-15 Jahre alt und Punk war für mich diese aufregende, neue Sache. Ich weiss, dass ich mal bei einer Familienfeier geheult habe, weil ein Arbeitskollege meines Onkels einen Iro hatte und ich das so unfassbar gefährlich und verstörend fand, dass ich nicht anders konnte als schreiend wegzurennen. Meine sonstigen Erfahrungen mit Punk waren vorher lediglich, dass mich meine Eltern vor diesen furchtbaren Jugendlichen warnten, die bei uns im Dorf in Industrieruinen rumhingen und dort Dübel um Dübel kifften als müssten sie den Schornsteinen dieser die letzte Ehre erweisen.
Musikalisch beschränkten sich meine Erfahrungen in diesem Alter auf das typische MTV-Punk-Spektrum: Ärzte, Hosen, Green Day usw. Als mir ein Kumpel aus meinem Dorf, der ca. 2 Jahre älter als ich war, die "Musik für Arschlöcher" von der Terrorgruppe brannte und mir danach eine DVD mit .mp3s gab, die ich mir unbedingt anhören sollte, war es letztendlich um mich geschehen. Unter anderem befand sich auf dieser ein Album der Band Muff Potter, irgendwie hatte ich den Namen schon mal gehört, sie hatten ein sehr kryptisches und interessantes Lied auf einem der "Punk Rock BRD"-Sampler von Weird System und das Video zu "Allesnurgeklaut" hatte ich sogar mal bei MTV gesehen.
Das Album trug den wunderschönen Namen "Bordsteinkantengeschichten" und wurde immer wieder von mir angehört, wenn ich irgendetwas anderes hören wollte als den klassischen Suff- und Nix-Gut-Punk. Die Texte fand ich schon damals sehr intelligent, was so viel heissen sollte wie: Ich verstand sie nicht. Keinen einzigen. Nicht mal die ziemlich direkten wie "Mensch Meier". Musikalisch hörte ich das ganze noch lange vor meiner Begeisterung für Jens-Rachut-Bands, Leatherface, Jawbreaker oder beispielsweise auch Razzia, bedeutet so viel wie: Ich hatte noch nie etwas derartiges gehört.
Ich behielt das Album immer in sehr guter Erinnerung, habe in der Zwischenzeit mal mehr und mal weniger Muff Potter gehört, Bordsteinkantengeschichten blieb jedoch immer mein Lieblingsalbum der Band. Perfekt fügt es sich in die Lücke zwischen den 2 Phasen der Band ein, von rumpeligem, ziemlich lärmigen - jedoch immer irgendwie melancholischen - Punk zu melodischem Indie Rock mit sehr guten Texten und stets aufblitzender Punk-Verwurzelung.
Als Sänger/Gitarrist Nagel unter seinem klangvollen Geburtsnamen "Thorsten Nagelschmidt" in die verschlafene Studentenstadt Jena kam, um sein neues Buch "Der Abfall der Herzen" in einer Lesung im Rosenkeller vor schätzungsweise 13 (!) zahlenden Gästen vorzustellen, ahnte ich noch nicht, was damit für mich begann. In dem Buch geht es nämlich um den Nagel von 1999, gerade zu der Zeit, als dieses Album fertiggestellt wurde und was soll ich sagen, der Mann war ein herrlich abgefucktes Arschloch. Da gibt es weggelaufene Freundinnen, am laufenden Band geleerte Weinflaschen, schlecht bezahlte Arbeit, Freunden ausgespannte Freundinnen, über Schädel gezogene Weinflaschen, verzweifelt pathetische Tätowierungen, hart verkackte Muff-Potter-Konzerte, selbstverletzendes Verhalten des Protagonisten und eine deftige Schreibblockade des 41jährigen T. Nagelschmidt, die erst mit der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit endet. Was soll ich sagen, ich liebe dieses Buch und es hat mich quasi direkt mit der Nase wieder auf die "Bordsteinkantengeschichten" gedrückt, welche seit diesem Moment bei mir in Dauerrotation läuft.
Mit ein wenig Kontext und geistiger Reife verstehe ich die Texte, ich weiss, welche Musik die Band zu diesen Glanzleistungen inspiriert hat, ich weiss jeden Wechsel zwischen laut und leise zu schätzen, weiss nun, dass man einem ziemlich verzweifelten jungen Mann zuhört, der auf der Schwelle eines neuen Lebensabschnitts steht und ich erkenne mich selbst mit 21, 22 Jahren wieder, irgendwie ziellos, irgendwie ziemlich arschig, irgendwie sehr sympathisch.
Die Texte sind auch 12 Jahre nach dem ersten hören immer noch sehr gut, es geht um beendete Beziehungen, eine weggelaufene Freundin, persönliche Katastrophen, die Unfähigkeit, Gefühle zu empfinden, um deutsche Arschlöcher bei sehr deutschen Abschiebebehörden. Das ist alles irgendwie Punk, irgendwie Emo und sehr sehr großartig. Musikalisch bewegt sich das ganze permanent zwischen den bereits erwähnten Razzia, Dackelblut, Leatherface und anderen, Muff Potter waren sehr prägend für eine Musikrichtung, die sich gerade tatsächlich einer neuen Renaissance erfreut und von dem einen oder anderen Fanzine mit "New Wave of Deutschpunk" betitelt wird. Alles ein wenig studentisch, mal mehr oder weniger verkopft aber doch ziemlich dreckig.

Alles in allem kann ich jedem, aber auch absolut jedem, der sich nur ein bisschen für Deutschpunk mit Immatrikulationshintergrund interessiert, ans Herz legen, sich dieses Album anzuhören und sich zu verlieben. Für immer. Irgendwie. Ich habe es schon sehr lange in mein Herz geschlossen und es wird sich wohl durch nichts auf der Welt dort vertreiben lassen. 11/10 Pfandflaschen, ich bitte um Entschuldigung für so verdammt viel Text.

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